Die Gemeinsamkeit der beschriebenen problematischen Verhaltensweisen liegt in der fehlenden realen Verbindung zwischen Betroffenen und Nicht–Betroffenen; oder anders gesagt: Die Vorannahmen und Erwartungen einer Person darüber, wie es einer anderen Person mit einer Sache geht oder gehen würde, führen zu fehlender Offenheit und Kommunikation über Bedürfnisse und Wünsche beider Seiten (Kremsner & Proyer, 2018, S. 440). Doch auch die (negativen) Erwartungen der betroffenen Person gegenüber anderen und das negative Selbstbild einer Person können wie oben beschrieben zu Schweigen statt zu offenem Gespräch führen.
Zu Lernen, Emotionen, Bedürfnisse und Grenzen zu kommunizieren, ist neben der Bildung über den Hintergrund eines Themas und über die realen Erfahrungen von Betroffenen ein zentraler Punkt, um Stigmata zu brechen. Vor allem in persönlichen Beziehungen, doch auch im beruflichen Kontext ist Kommunikation über das eigene Erleben essenziell, denn es geht dabei um Scham, Schuldgefühle, Enttäuschung, Gefühle von Unzulänglichkeit, und auch Hoffnung, dem Bedürfnis nach und dem Zeigen von Wertschätzung, Liebe, Geborgenheit und vor allem Akzeptanz. Diese Gefühle auszudrücken, kann helfen Stereotype gegenüber Betroffenen mit psychischen Krankheiten abzubauen, sowie Verbindung durch Verständnis und Empathie zu schaffen, was für beide Seiten hilfreich und erleichternd sein kann. Denn nicht nur die betroffene Person profitiert von gelingender Offenheit: Gegenseitiges Verständnis schafft Vertrauen und damit die Sicherheit, dass das eigene Erleben in diesem Verhältnis gut aufgehoben ist. Dies kann sich natürlich erst mal wie ein Wagnis anfühlen und es braucht Mut, diesen Schritt zu gehen. Doch gelingt dies, so ist es für jeden Kontext eine produktive Basis. Im folgenden Abschnitt thematisiere ich daher in Ansätzen die Einbettung von Emotionen in Forschung und Gesellschaft und arbeite anhand der Funktion von Emotionen heraus, wie eine neue Offenheit für die Verarbeitung von Emotionen auch und vor allem im Umgang mit psychischen Erkrankungen wie einer Depression hilfreich sein können und sogar notwendig ist.
THEORIE UND FUNKTION VON EMOTION
Es nicht verwunderlich, dass das Sprechen über Emotionen oft schwerfällt. In den meisten Lebensbereichen gilt es als professionell, sämtliche Gefühle auszuklammern und damit »vernünftig« zu handeln oder sich gar »stark« zu geben (z. B. so zu tun als wüsste man, wovon man spricht) statt »Schwäche zu zeigen« (zuzugeben, etwas nicht zu wissen, wodurch jemand anderes vielleicht die Chance hat, es zu erklären). In der Wissenschaft ist erst seit relativ kurzer Zeit vom emotional turn die Rede, der seit Beginn des 21. Jahrhunderts immer mehr Interesse für den Begriff »Emotion« und damit für Entstehung, Funktion, Wirkung, Wahrnehmung und Ausdruck von Emotionen aufzeigt. Dass das Feld immer noch unzureichend theoretisiert ist, liegt auch an der problematischen Bestimmung und Eingrenzung des Emotionalen. So existieren viele Konzepte und Abhandlungen, die sich teilweise mit ganz verschiedenen Phänomenen auseinandersetzen und einzig den Begriff »Emotion« gemeinsam haben. Dennoch hat die emotionstheoretische Aufarbeitung in der Soziologie und Psychologie in jüngerer Zeit einen Auftrieb erfahren, was nicht zuletzt am Wert der Emotionen für sämtliche Formen der Bildung liegt (Huber, 2018, S. 92–93). Wie eben schon angeklungen ist: Eine Nachfrage kann nur produktiv stattfinden, wenn sich die fragende Person sicher fühlt — und das hängt mit dem »emotionalen Klima« der Situation zusammen. Für eine entsprechende Atmosphäre spielen natürlich viele Faktoren eine Rolle. Werden Emotionen allerdings unbewusst oder bewusst ausgeklammert, so kann sich die überlebenswichtige Ausgleichs– oder Regulationsfunktion nicht entfalten. Sie ist jedoch von zentraler Bedeutung nicht nur für jedes soziale System: Die Regulation auf biochemischer Ebene, die Homöostase, ist ein essentieller Mechanismus der Selbsterhaltung, welche den Organismus in einen Zustand »inneren Gleichgewichts« zurückbringt (Huber, 2018, S. 94). Emotionen steuern dadurch die Adaption eines Organismus an Umfeld und Umwelt. Sie lenken ein Individuum dazu, Wohlbefinden zu suchen und Schmerz oder Gefahr zu vermeiden. Die kognitive (bewertende oder einordnende) sowie die körperliche (fühlende) Ebene sind dabei eng verwoben (Huber, 2018, ebd.).
EMOTION UND GESELLSCHAFT
Wie schon im ersten Kapitel beschrieben, sind emotionale Vorgänge zum Teil Produkt des sozialen Lernens, verankert in der das Individuum umgebenden emotionalen Kultur. Patricia Baquero Torres, Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft, beschreibt dahingehend die sogenannten »emotional communities« als Grundlage dieses Lerneffekts (Baquero Torres, 2018, S. 420). Diese entstehen aufbauen auf ein Gefühlssystem, was die Wahrnehmung der Repräsentation und Regulation bestimmter Gefühle, also der Hervorhebung auf der einen und der Unterdrückung, das Ignorieren oder die Abwertung bestimmter Gefühle auf der anderen Seite beschreibt. Daraus ergibt sich eine »dynamische kulturelle Matrix«, welche die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gemeinschaft konstruiert (Baquero Torres, 2018, S. 420). Das Erleben, die Regulation sowie der Ausdruck von Emotionen haben somit eine kollektive Dimension, welche eine Gesellschaft entscheidend prägt. Ein gemeinsames emotionales Repertoire und die Ausübung dessen bilden gemeinsame emotionale Erfahrungen und tragen zur Bildung der emotional communities innerhalb einer Gesellschaft bei. Zentral ist also der relationale Gehalt der Emotionen — sie entstehen in sozialen Beziehungen durch Interaktion eines Individuums mit »der Welt« oder »den Anderen«. Das emotionale Verhältnis zwischen Individuum und »Welt« trägt also als bindende Kraft zur Reproduktion gesellschaftlicher (Miss–)Verhältnisse bei. Emotionen sind auch im Kleinen, in einer Familiendynamik, ein starker Anker für »eingeschliffene« Verhaltensweisen, welche durch das gemeinsame emotionale Repertoire bestimmt werden. Im Hinblick auf die Konstruktion von Gesellschaftsstrukturen und Stigma ist es daher essentiell, das eigene Verhältnis zu Emotionen — und dahinter stehend zur »Welt« — bewusst zu reflektieren, um dysfunktionale Anteile zu verändern, sodass das Familiensystem im Kleinen und das kulturelle und soziale Wertesystem im Großen, an dessen Konstruktion jede*r von uns beteiligt ist, die Verarbeitung und Integration von Emotionen zulässt und sogar befördert.
Das reine Ziel einer »gut integrierten Persönlichkeit« ist dennoch kontrovers (Göppel, 2018, S. 335). Es darf nicht verkannt werden, dass das aufgestellte Konzept in zwei Richtungen zu lesen ist: Neben der konstruierenden Wirkung von Emotionen für die Gesellschaft hat die Gesellschaft selbst in ihren bestehenden Strukturen einen deutlich prägenden Einfluss auf die Bildung, Bewertung und den Ausdruck von Emotionen. Die Wucht und das Ausmaß dieser gesellschaftlichen Strukturen, wie im Kapitel über Stigma bereits anklang, sei es Stigmatisierung in Form von Sexismus, Klassismus, Rassismus oder Ableismus usw. darf nicht verkannt werden. Die Sichtweise der extremen Ressourcenorientierung, wie sie zum Beispiel in der »Positiven Psychologie« gängig ist, suggeriert auf problematische Weise, die betroffene Person hätte »alles selbst in der Hand« und »müsste nur die Samen der Freude gießen« um zu einem völlig glücklichen, problemlosen Leben zu kommen (Göppel, 2018, S. 352). Ich grenze den von mir beschriebenen Zugang klar von Tendenzen der Selbstoptimierung und der Selbstmanipulation ab, welche in extremen Formen und Ratgeberformaten der »Positiven Psychologie« in heutiger Zeit, sei es digital oder analog, in vielfältiger Form gang und gäbe sind. Diese Sichtweise klammert jedoch die politische Dimension des Daseins einer Person aus, welche durch bestehende Formen der Diskriminierung und vorhandenen Privilegien bestimmter Gruppen den Zugang zu Ressourcen enorm erschwert oder ganz verhindert. Genau deshalb ist ein neuer, offener Umgang mit Emotionen wichtig: Die althergebrachte Bewertung in »positive« und »negative« Emotionen erschöpft sich hier. Wut darf als Antriebskraft der Veränderung, und Traurigkeit zur Verarbeitung von Verlust oder Ablehnung nicht verkannt, abgewertet (bspw. aufgrund des sozialen Geschlechts einer Person) oder im Rahmen einer gesellschaftlich akzeptierten »Timeline« verdrängt werden. Im Gegenteil: Es muss ein konstruktiver Umgang erarbeitet werden, der langfristig weder für das Individuum (durch z. B. Verdrängung) noch für die es umgebende soziale Gemeinschaft (ebenfalls durch Verdrängung, oder auf der anderen Seite überfordernde Wiederholung, ohne genug eigene Erholungspausen oder Abstand) destruktiv ist. Das Kontroverse in dieser Sichtweise ist, dass der Ausdruck von Emotionen kurzfristig durchaus destruktiv anmuten kann — sei es durch Aggression in Wut oder Frust im Streit. Hier stellt sich die Frage, in welcher Form diese Emotionen »angemessen« geäußert werden können. Ich sehe mich selbst an dieser Stelle als Teil einer emotionalen Kultur, die mich »angemessene« Maßstäbe nach meiner ganz persönlichen Prägung ansetzen lässt. Statt also »Maßstäbe für guten Umgang« zu definieren zu versuchen, möchte ich auf das immer wieder neue Aushandeln dieser, entsprechend der sozialen Dynamik jeder Beziehung, hinaus. Es geht mir darum, ein gemeinsames Bewusstsein für sich und das jeweilige Gegenüber auch in politischen Dimensionen anzuregen, sodass ein Sprechen über diese Standards einer Beziehung und das gemeinsame Aushalten — oder ganz ohne Bewertung — das »Halten« bzw. Erleben von Emotionen, auch gegenüber des eigenen Selbst, möglich wird. Die Konstitution eines solchen Umgangs ist dabei individuell, da sowohl die Erfahrungen und Prägungen jedes beteiligten Individuums, als auch das Temperament oder der Wille zur Veränderung, sowie Widerstandsfähigkeit (Resilienz) eine Rolle spielen. Dazu ist es nötig, das Reflektieren und Kommunizieren über die eigenen Emotionen und die internalisierten kognitiven Strukturen zu erlernen. Das ist ein veränderlicher und dynamischer Prozess, der über lange Zeit, wenn nicht sogar das ganze Leben lang stattfinden kann und muss. Die Bearbeitung dieser eigenen gelernten Gesinnung und der verankerten Standards kann — vor allem in schwierigen Lebensphasen — im Rahmen einer Therapie sinnvoll sein.
ÜBER THERAPIE
Im therapeutischen Rahmen spannt sich ein durch die*den Therapeut*in gestalteter Raum auf, der für alle mitgebrachten Emotionen einen sicheren Raum bietet. Im professionellen Setting kann der Umgang vor allem mit schwierigen Emotionen, welche für die vorhandenen persönlichen Beziehungen überfordernd scheinen, erlernt werden. Die Arbeitspraxis ist in vielen verschiedenen Formen anerkannt und seit langem etabliert. Trotz dem erwiesenen und offensichtlichen Nutzen gibt es große innere Widerstände gegen diese Form von Ressource, was oft zu verlängertem und tieferem Leid führt, bevor Betroffene sich an eine Hilfestelle wenden. Ich führe diesen inneren Widerstand einerseits auf das Stigma rund um mentale Gesundheit zurück. Zudem sind die Möglichkeiten, auf welche konkrete Weise die Arbeit mit der menschlichen Psyche tatsächlich Veränderung zum Guten bewirken kann, vielen Menschen kein Begriff, und ist dadurch für viele mit einer großen Hemmschwelle verbunden. Die Hinwendung zu persönlichen Problemen scheint — vor allem gegenüber einer zunächst fremden Person — zu deren Lösung oft konträr zur eigenen Intuition. Es braucht meist einen hohen Leidensdruck, den Betroffene nicht mehr aushalten können oder wollen, um den Schritt über die Hemmschwelle hinaus zu wagen und professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dazu kommt der strukturelle Punkt: Die Zugänglichkeit ist durch die zu geringe Verfügbarkeit von Therapieplätzen erschwert. Für Betroffene, die wahrscheinlich gerade in einer schwierigen Lage stecken, kann sich die Suche eines geeigneten Platzes über mehrere Monate ziehen und damit eine enorme Herausforderung darstellen. Diese Anstrengung auf sich zu nehmen, ist für Betroffene ohne Unterstützung nicht immer möglich.
FAZIT
Die hier ansetzende Theorie ist nun: Wenn ein offener und konstruktiver Umgang mit Emotionen bereits erlernt ist, dann können die Schwierigkeiten des eigenen Lebens besser bewältigt werden. Wenn nötig, kann die eigene Bedürftigkeit anerkannt und auch im persönlichen Umfeld Hilfe einfacher gesucht und in Anspruch genommen werden. Dies ist der Teil, der in der Verantwortung einer*s jeden von uns liegt. For Greater Empathy bedeutet, die eigene Verantwortung wahrzunehmen, über den eigenen Umgang mit Emotionen — den eigenen und denen der anderen — zu reflektieren und sich mit deren Hintergründen auseinanderzusetzen. Es ist notwendig, in der Zeit der fortschreitenden Digitalisierung und damit der Abstrahierung vieler Arbeits– und Kommunikationsprozesse in virtuelle Räume, menschliche Wärme, Mitgefühl und wenn möglich, eine grundsätzlich vertrauensvolle Zugewandheit zu praktizieren, um einer sozialen Fragmentierung mit dem Erhalt der sozialen Integration, dem Gemeinschaftsgefühl der emotional communities entgegenzuwirken. Die Veränderung, die auf gesellschaftlicher Ebene stattfinden muss, wirkt im Idealbild von diesem persönlichen Umgang in die vorhandenen Strukturen hinein. Unterstützungsmöglichkeiten für die mentale Gesundheit müssen zugänglicher, sowie die Bildung über Mechanismen und Umgang mit der Psyche müssen zum Teil einer grundsätzlichen Bildung in sämtlichen Institutionen gemacht werden, um in vielen Dimensionen Entlastung zu schaffen. Das ist auch im Sinne der meistens von Frauen* getragenen emotionalen Care–Arbeit eine intersektionell–feministische Forderung. Die Aufarbeitung von emotionalen Themen muss normalisiert und damit eine gesellschaftliche Grundlage geschaffen werden, die einen inklusiven Umgang mit psychischen Krankheiten auf emotionaler sowie struktureller Ebene vorantreibt. Sodass die Last in einer sowieso schon durch eine Krise belastete Zeit durch den gemeinsamen achtsamen Umgang ein Stück leichter wird.