Wortherkunft: Griech. stigma, Bedeutung: Körperliches Mal, das etwas moralisch Verwerfliches über die Tragenden offenlegt. Brandmarkung damals von z. B. Sklaven, kriminellen Personen oder Verrätern; als Zeichen, diese vor allem in der Öffentlichkeit zu meiden; Symbol der Entstellung, Verunreinigung. Heute: Verwendung des übertragenen Sinnes in der Soziologie/Psychologie für Formen der Diskriminierung und Abwertung; und für körperliche Symptomatik.
Der Begriff »Stigma« begegnet uns in vielen verschiedenen Kontexten und es gibt daher eine weite Varianz an Definitionen. Im weitesten Sinne beschreibt der Begriff heute den Prozess der Ausgrenzung und/oder Abwertung von Menschen oder bestimmter Personengruppen durch Labelling und die Verbindung dieses Labels mit negativen Charakteristiken (Link & Phelan, 2001, S. 364 – 365). Die Verbindung eines Labels mit unerwünschten oder negativen Eigenschaften führt zu Stereotypisierung dieser Personengruppe. Die Gruppe, die stigmatisiert, führt damit eine Trennung in »wir« und »die anderen« herbei. Die Stigmatisierung setzt ein Machtgefälle voraus. Die Gruppe, die weniger Macht besitzt wird deshalb durch die »mächtigere« Gruppe definiert. Im Umkehrschluss bedeutet das: Auch wenn die stigmatisierte Gruppe in den gleichen Gedankenprozessen involviert ist wie die Gruppe, die mehr Macht besitzt (also bspw. die »mächtigere« Gruppe abwertet), so führt dies nicht zur Stigmatisierung der dominanten Gruppe, da die Strukturen und Prozesse, die zur Stigmatisierung führen von der mächtigeren Gruppe dominiert werden. Hier zeigt sich schon im Ansatz der Teufelskreis, der die Abwertung in einem Machtgefälle nach sich zieht. Um den Prozess der Stigmatisierung genauer zu verdeutlichen, möchte ich anschließend anhand eines Beispiels das von den beiden Soziolog*innen Bruce Link und Jo Phelan erarbeitete Vorgehen zur Identifizierung von Stigmata vorstellen.
Link und Phelan stellen in ihrem Text Conceptualizing Stigma (Link & Phelan, 2001) zur Identifizierung von Stigmata ein Set von Fragen auf, dessen Beantwortung zum Verständnis der Entstehung und Verankerung der Struktur beiträgt. Die vier Fragen lassen sich mit den Stichwörtern »identify — accept — separate — control« zusammenfassen. Ausführlicher beschrieben führt als erstes das Identifizieren und das Labelling von menschlichen Unterschieden in einem Kulturkreis dazu, dass bestimmte Gruppen in Verbindung mit Stereotypen gebracht werden. Dies ist Voraussetzung zur Akzeptanz dieser Unterschiede. Die mächtigere Gruppe bewirkt in Folge der Akzeptanz dieser Stereotypen eine Spaltung, eine Abgrenzung der »eigenen« Gruppe von der »anderen« Gruppe, welche mit dem Stereotyp gelabelt wird. Es besteht dann die Abgrenzung zwischen »uns« und »den anderen«, welche in Verbindung mit dem letzten Punkt, der Kontrolle über die Zugänglichkeit der »major life domains« durch die mächtigere Gruppe dazu führt, dass sich die Spaltung in der Lebensrealität eines stigmatisierten Menschen manifestiert. Konkret gesagt, durch die stereotype Wahrnehmung und die damit verbundenen Gedankenprozesse kommt es zur strukturellen Benachteiligung und Diskriminierung bestimmter Personengruppen. Dies äußert sich als Stigma in Ungleichheit und durch Ablehnung, Ausgrenzung und/oder Abwertung der Personengruppe ohne deren Zutun oder Verantworten.
Im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten ist eine Historie der Stigmatisierung bekannt (Brunton, 1997). In dieser Arbeit möchte ich besonders auf diesen Themenbereich eingehen, um herauszufinden, wie die Stigmatisierung von Betroffenen sich neben der Krankheit selbst als belastend für soziale Dynamiken auswirkt.
Gehen wir die Fragen nacheinander durch: Die Gruppe, die nicht von psychischer Krankheit betroffen ist, scheint größer; es gilt als die »Norm« psychisch gesund zu sein. Dass es psychische Krankheiten gibt und die Ausprägung für Betroffene sowie für Angehörige belastend sein kann, ist für die Mehrheitsgesellschaft bekannt. Der identifizierte und akzeptierte Unterschied liegt also in der Diagnose, eine psychische Krankheit zu haben oder nicht zu haben, bzw. betroffen zu sein oder nicht. Stereotypen, die mit psychischen Krankheiten verbunden sind und den betroffenen Personen zugeordnet werden, rühren zum Beispiel von der Behandlung von Menschen mit psychischen Krankheiten in der Vergangenheit her, abwertende Bezeichnungen wie »Irrenhaus« oder »Klapse« sind verbreitet und zuspitzende Beschreibungen psychischer Krankheiten durch die Medienberichterstattung zu kriminellen Handlungen wie Mord, Anschlägen oder Amokläufen werden durch die entsprechenden Medien verstärkt und aufrechterhalten. Auch in der Fiktion, in Horror–, Thriller oder auch subtiler in Romcom–Produktionen sind psychische Krankheiten mehrheitlich als Faktor der Ausgrenzung, der Unfähigkeit zur eigenen Lebensgestaltung, des Wahns oder als Charakteristikum der »Bösen« bekannt (Hinshaw, 2005, S. 715 – 717). Damit bilden sich Stereotype, die mehrheitlich nicht durch das eigene Erleben Betroffener bestätigt werden, jedoch werden diese Stereotypen durch fehlenden bewussten Kontakt und fehlende Bildung über das tatsächliche Erleben von Menschen mit psychischer Erkrankung auch nicht widerlegt. Es setzt sich ein Bild von Personen mit psychischen Krankheiten zusammen, welches durchweg negativ und oft überzeichnet ist, sodass die psychische Krankheit zum Hauptcharakteristikum einer Person gedeutet wird. Durch diese unterschwelligen Zuschreibungen, welche von der Mehrheitsgesellschaft unbewusst internalisiert werden, wird die Spaltung in »wir« (»mit gesundem Menschenverstand«) und »die anderen« (»mit psychischen Problemen«, es sei auf die plötzlich abwertende Beschreibung des Labels geachtet) manifest. Das Resultat ist die Stigmatisierung der Betroffenen. Zu Beobachten im persönlichen Kontext Betroffener, zum Beispiel durch abwertende Blicke oder Kommentare, oder direkte Angriffe oder Schuldzuweisungen an Betroffene. Die Liste ist, wie bei jedem Auftreten von Stigma, unvollständig und lang (Hinshaw, 2005, S. 719 – 720).
Doch nicht nur auf persönlicher Ebene kommt es zur Diskriminierung. Auch wenn persönlich kein Vorurteil oder Stereotyp über psychische Erkrankungen vorliegt, befindet sich Betroffene in einer diskriminierenden Situation. Die Strukturen von Bildung, Arbeit, Wohnung und Gesundheitsversorgung sind größtenteils, auch auf politischer Ebene, von der nicht–stigmatisierten Gruppe dominiert und somit auch strukturell von dieser Gruppe bestimmt. Das Nicht–erfüllen–können bestimmter Anforderungen, sei es im Job, Studium oder auf Wohnungssuche — das Aussortiert–werden wegen einer bestimmten Krankheitsgeschichte und das Fehlen bestimmter Leistung aufgrund dessen ist strukturelle Diskriminierung. Die Gefahr der Stereotypisierung liegt nicht nur in dem abwertenden Blick von außen, sondern auch in dem Prozess der Internalisierung dieser Abwertung in Betroffenen. Ist die Abwertung in einer Person internalisiert und erkrankt die Person zum Beispiel an einer Depression, so hört die Abwertung nicht plötzlich auf — sie kann stattdessen zu einer persönlichen Bürde werden, die die Krankheit aufgrund des sozialen Stigmas schwerer wiegen lässt als sie an sich vielleicht sein könnte. Dies führt oft dazu, dass psychische Krankheiten von Betroffenen verschwiegen werden, um die Abwertung, Abgrenzung und auch Überforderung in der Familie, im Freundes– oder Bekanntenkreis und im Job zu vermeiden, obwohl dies zur Belastung des Betroffenen führt. Das allgemeine Schweigen macht Themen wie Depressionen oder Angststörungen zum Tabuthema und zu einer stillen Schwäche, einem negativen Geheimnis, welches durch die Betroffenen durch die Welt getragen wird. Das Absurde ist: Viele Menschen sind durch psychische Krankheiten betroffen. Betroffene stigmatisieren sich durch das Schweigen darüber selbst und tragen damit zur Aufrechterhaltung des Stigmas bei, da eine Konfrontation mit der tatsächlichen Realität Betroffener sowie Nicht-Betroffener (bspw. Mitgefühl statt Ausgrenzung) und dem Vorhandensein von Vorurteilen nicht stattfinden kann. So wiegt die Bürde des Einzelnen weiterhin schwer. Können durch offenes Gespräch die Vorurteile und negativen Stereotype aufgelöst werden, so kann dies eine große Erleichterung für Betroffene sein, da die Krankheit nicht länger versteckt werden muss und in Rücksprache mit dem Umfeld ein allgemein gesunder und hilfreicher Umgang für die Situation des Betroffenen und auch die eventuelle Belastung Angehöriger gefunden werden kann. Laut Link und Phelan ist Stigma ein Teufelskreis: So lange die dominante Gruppe ihren Blick auf stigmatisierte Gruppen aufrechterhält, wird das Vermindern eines diskriminierenden Mechanismus anderen Mechanismen der Diskriminierung Auftrieb geben (Link & Phelan, 2001, S. 380). Die Verantwortung liegt also in der dominanten Gruppe, sich selbst und andere über Stigmatisierung, Stereotypisierung und die automatischen Gedankenprozesse dahinter aufzuklären, sodass Vorurteile abgebaut und inklusive Strukturen geschaffen werden können. Die Auflösung des Machtgefälles zwischen den Gruppen ist essentiell, um diesen Teufelskreis zu brechen. Es sollten zum Beispiel auf politischer Ebene Betroffene selbst für das Erarbeiten von Regelungen herangezogen werden, um eine direkte Perspektive mit einzubeziehen. Auch die mediale Repräsentation der stigmatisierten Gruppe darf nicht aufgrund des stereotypen Charakteristikums geschehen, sondern muss mit Respekt der Identität der Person als Ganzes gezeichnet werden.
An dieser Stelle möchte ich das angeführte Konzept von Stigma mit der eingangs beschriebenen Familiendynamik in Verbindung betrachten.
Die Tabuisierung eines Themas geschieht wie schon beschrieben oft nicht bewusst, sondern ist Folge von genau dem Mechanismus der Vermeidung: Die betroffene Person ist sich des Problems wie zum Beispiel einer Scheidung, Depression, oder dem Suizid eines Angehörigen durchaus bewusst, gleichzeitig damit kommen bei diesen schwierigen und komplexen Themen Gefühle von Scham und Schuld auf. Die betroffene Person möchte die Familie nicht mit den eigenen Gefühlen oder den scheinbar problematischen Themenfeldern »belasten.« Die stigmatisierten Themen erzeugen außerdem Überforderung, da es durch das sich immer weitergetragene Schweigen oder gar die erfahrene diffuse Abwertung gegenüber beispielsweise anderen betroffenen Personen nicht gelernt werden kann, offen darüber zu sprechen. Was von diesem Standpunkt einer Person, die sich mit dem stigmatisierten Thema konfrontiert sieht, durch den Blickwinkel des scheinbar belastenden Themas nicht gesehen wird: Das Nichtansprechen ist für die gesamte soziale Dynamik viel eher belastend, da Kinder, Partner*innen oder andere nahe Bezugspersonen spüren, dass etwas vor sich geht. Vor allem Kinder neigen dazu, die »versteckten« Probleme ohne Erklärung auf sich zu beziehen. Die Auseinandersetzung mag zwar kurzfristig unangenehm sein, und Traurigkeit, Wut, Ärger, Enttäuschung oder Frust mit sich bringen; jedoch kann genau dadurch eine Veränderung und vielleicht sogar eine Vertiefung der Beziehungen entstehen. Zudem kann ein offener Umgang dazu beitragen, das Thema auf gesunde Art und Weise in den Lebenslauf zu integrieren — mit anderen Worten, es bewusst in das eigene Archiv aufzunehmen und das Geschehene damit anzuerkennen.